Die Predigt im Wortlaut:
Erstaunen löste es im ersten Moment aus, als Kardinal Dominique Mambert nach dem „Habemus Papam“ den Namen des neuen Papstes bekanntgab: „Leo XIV.“. Es dauerte nicht lange, da hatten die Berichterstatter und Reporter auf dem Schirm: Der neue Papst will an Leo XIII. anknüpfen. Leo XIII. ging in die Geschichte ein als „Arbeiterpapst“. Als die Welt im 19. Jahrhundert im Umbruch war, als infolge der sogenannten industriellen Revolution nicht nur die handwerklichen Betriebe kaputtgingen und große Fabriken entstanden, als sich damit die Arbeitswelt radikal änderte und sich die Arbeitsbedingungen vielfach sehr unmenschlich gestalteten, als damit auch die gewachsenen sozialen Netze zerrissen, da hat Papst Leo XIII. mit seiner Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ – über die neuen Dinge – der Welt eine maßgebliche Wegweisung für eine menschliche Arbeitswelt gegeben.
Und weil sich unsere Welt heute wiederum in einem starken, einem gravierenden Umbruch befindet, der das Leben und das Zusammenleben verändert, sieht es Papst Leo XIV. als seine Aufgabe an, aus dem Geist der Frohen Botschaft Orientierung zu geben.
- Unsere Welt ist durch Spannungen und Konflikte – auch bei uns in Europa – bedroht.
- Moderne Entwicklungen wie mit der Digitalisierung, der Informationstechnologie und der Künstlichen Intelligenz nehmen massiv Einfluss auf das Leben der Menschen.
- Das Menschenbild verändert sich. Der Wert und die Würde eines jeden Menschen wird überlagert von der Ökonomisierung aller Lebensbereiche bis hin zur Frage, „was bringt der“, „was bringt die noch“? Im unmittelbaren persönlichen Umfeld wird leider nicht selten die Frage gestellt, wenn Solidarität erforderlich wäre: „Was habe ich davon?“
- Diese Entwicklung hinterlässt ihre Spuren im Menschen. Immer mehr sind orientierungslos, fühlen sich überfordert oder kommen sich gar unnütz vor.
Doch genau die derzeitige Situation in Welt und Gesellschaft könnte eine Chance für das Christentum sein. Der Bochumer Pastoraltheologe Matthias Sellmann sagte dieser Tage in einem Interview: „Wo Kirche gut arbeitet, steigt die Wahrscheinlichkeit von glaubwürdigen Begegnungen.“ Es kommt gerade jetzt darauf an, von Gott zu reden und seine Lebensbotschaft in Wort und Tat zu bezeugen.
Sellmann sagt: „Authentisches Christsein übersetze ich damit, dass Christen eine Leidenschaft für das Mögliche haben. Es sind Menschen, die es für möglich halten, dass Beziehungen weitergehen, die es für möglich halten, dass man diese Erde retten kann, dass man sich mit dem Nachbarn versöhnen kann, dass Krankheit und Tod nicht das Ende sind. Und dort, wo Menschen das leben, wo sie ein Geheimnis ausstrahlen, wo sie Fröhlichkeit ausstrahlen, wo sie Großzügigkeit, Engagement und Humor ausstrahlen, da wird man vielleicht nicht sagen, das sind authentische Christen, aber man wird sagen, das sind sehr interessante Menschen. Was motiviert diese Menschen?“
Die ZEIT hat in einer Umfrage erhoben, dass 70 Prozent der Deutschen sich für den Papst interessieren, also weit mehr als der Kirche angehören, und das in einer Zeit, in der viele Menschen aus der Kirche austreten. Sein erster Gruß nach seiner Wahl an die Welt war: „Der Friede sei mit euch!“ Diese Botschaft hat Aufmerksamkeit gefunden in der Welt unserer Tage mit ihren vielen Konflikten. Und wir erleben, wie er sich um Frieden müht. Er spricht mit Selenskyj, er telefoniert mit Putin, mit Trump, er redet mit dem EU-Ratspräsidenten usw.
Am vergangenen Mittwoch hat Papst Leo bei seiner Generalaudienz auf dem Petersplatz auf die Situation von Menschen hingewiesen, die keinen Sinn mehr im Leben finden, sich nutzlos, unfähig, nicht geschätzt, nicht anerkannt fühlen. Genau dann kommt es darauf an, dass sie dem glaubwürdigen Zeugnis für den Herrn des Lebens begegnen, der uns alle immer wieder spüren lässt, „… dass unser Leben wertvoll ist“. Dazu ist das Interesse am Menschen wichtig, und wie Papst Leo sagte, die Bereitschaft, persönlich hinauszugehen, „die Ärmel hochzukrempeln“ und anzupacken.
Um es mit den Worten von Matthias Sellmann in seinem schon erwähnten Interview zu sagen: „Dann stellt sich die Frage, wie diakonisch diese Kirche ist? Ist sie wirklich an meiner Seite, wenn es mir schlecht geht? Und zwar nicht abstrakt, sondern ganz konkret in faszinierenden, helfenden Persönlichkeiten, in der Telefonseelsorge, in der Notfallseelsorge, in der Hospizseelsorge. Sprache, Liturgie, Diakonie – das sind drei Marker, mit denen Kirche heute wieder Aufmerksamkeit für ihre Glaubwürdigkeit bekommen kann.“
Und ich möchte ergänzen: Damit weckt sie Neugierde und Interesse an Gott und am Glauben.
Damit sind wir bei der Hl. Gertrud, die seit Jahrhunderten hier in Waldzell verehrt wird. Sie alle kennen ihre Lebensgeschichte, die Berichte über ihre adelige und wohlhabende Herkunft und den Entschluss, gemeinsam mit ihrer Mutter ihr Leben in den Dienst des Auferstandenen zu stellen und Zeugnis für die Frohe Botschaft Jesu zu geben. In der Lebensbeschreibung der Hl. Gertrud, heißt es: „Sie ragte hervor durch große Kenntnis der Hl. Schrift.“ Sie war also eine auffallend gebildete Frau. Weiterhin fiel ihr „Tugendeifer“ auf, also die Konsequenz, wie sie lebte und ihren Glauben in die Tat umsetzte. Schließlich ist ein wichtiges Merkmal für sie ihre „tätige Nächstenliebe“.
Auch als Äbtissin war sie unermüdlich unterwegs in der Sorge um Arme und Bedürftige, in der Pflege von Kranken und Sterbenden – und zwar nicht nur im Kloster, sondern auch in dessen kilometerweiten Umgebung. Durch ihre persönliche, einfühlsame Zuwendung vermittelte sie den Menschen die Botschaft: „Du bist es wert!“„Du bist wertvoll!“
Im Evangelium haben wir gehört: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“ Diese Botschaft ist wichtig! Deshalb kommt es jetzt weniger darauf an, dass wir uns mit uns selbst, mit Amts-, Macht- und Strukturfragen beschäftigen, sondern dass wir dieser Botschaft folgen und mitwirken, um eine menschliche und lebenswerte Gesellschaft zu gestalten, das Leben fördern und als wertvolle Wegbegleiter und einfühlsame Mitmenschen wahrgenommen werden.
Über 70 Prozent der Deutschen schätzen und anerkennen den sozialen und caritativen Dienst der Kirche, ihrer Caritas, während das Vertrauen in die verfasste Kirche auf 11 Prozent abgesunken ist. Wir selbst, damit meine ich alle, die sich Christen nennen, und damit die ganze Kirche, müssen uns fragen und auch fragen lassen, ob durch uns und unser Tun die Handschrift Gottes für die Menschen ablesbar wird, ob wir als verlängerter Arm, als Handlanger des lieben Gottes erlebt werden.
Wir müssen das, was wir im wahrsten Sinne des Wortes vermögen, nutzen, um eine Kirche zu gestalten, die ohne Berührungsängste für alle Menschen da ist, die auf sie zugeht, die unterschiedlichsten sozialen Schichten zusammenführt, die für die Armen da ist und in der deshalb die Armen daheim sind.
Nicht, dass die Kirche Vermögen, Geld und damit finanzielle, materielle Möglichkeiten hat, ist ihr vorzuwerfen, sondern allenfalls, wie und wofür sie ihr Geld einsetzt, wie sie damit umgeht, um die Frohe Botschaft zu verkünden, um das Lob auf Gott zu feiern, um zu helfen.
Kirche soll sich im pastoralen, im liturgischen, auch im kulturellen Bereich engagieren, und ebenso ganz deutlich im sozialen! Dabei ist es gut, dass Christinnen und Christen sowohl durch ihr ehrenamtliches Engagement wie auch durch ihr berufliches Wirken im pastoralen und sozialen Bereich mithelfen, dem Leben zu dienen.
Kirche ist kein Unternehmen ebenso wenig wie Pfarrgemeinde kein Freizeit- bzw. Gesellschaftsverein ist. Die Verantwortlichen für den Dienst der Kirche in der Gemeinde wie in der Diözese und in der Weltkirche haben dafür zu sorgen, dass der Auftrag Jesu, die Frohe Botschaft in Wort und Tat zu bezeugen, in vielfältiger Weise umgesetzt werden kann.
Die Gesellschaft beobachtet uns Christen sehr genau und hält uns zu Recht den Spiegel vor, ob unser Tun, unser Einsatz Herzensangelegenheit ist, ob dadurch etwas von der Menschenfreundlichkeit Gottes aufscheint.
In einer Welt, die mehr und mehr von ökonomischem, wirtschaftlichem Denken her das Leben, jeglichen Einsatz und damit den Menschen beurteilt und bewertet, in dieser Welt ist es im wahrsten Sinne des Wortes wichtig, besorgte Zeuginnen und Zeugen der Frohen Botschaft in einem lebendigen Miteinander zu erleben, die selbst Hinweise auf die Zusage Gottes und SEINER Nähe sind. An solchen Menschen und ihrem Tun wird SEINE Handschrift ablesbar – wie bei der Hl. Gertrud.
Der Reichtum der Kirche sind all die Menschen, die sich als Kirche verstehen und sich mit Leidenschaft für das Leben einsetzen. Die Frage also, ob die Kirche reich oder arm ist, hängt von uns und unserem Dienst für das Leben ab. Gertrud hat die Welt bereichert, weil der Himmel durch sie die Welt gesegnet hat.
Gertrud hat in ihrer Zeit Erstaunen ausgelöst. Und ebenso lösen wir heute Erstaunen aus, wenn wir deutlich machen, dass wir in SEINEM Auftrag für die Menschen da sind, so wie z.B. Papst Leo Erstaunen ausgelöst hat.
Domkapitular Clemens Bieber
www.sankt-laurentius-kleinostheim.de
Text zur Besinnung
Gott,
du bist auf der Seite derer, die hungern
und du schreist mit ihnen nach Brot.
Wo denn könnte ich sein,
wenn nicht auf ihrer Seite und bei Dir?
Öffne mein Herz, mein Gott,
- und ich werde von dir berührt.
Öffne meinen Verstand, mein Gott,
- und ich werde verstehen.
Öffne meine Hand, mein Gott,
- und jemand wird satt.
Öffne mein Herz, mein Gott,
- und jemand wird geliebt.
Öffne mein Ohr, mein Gott,
- und jemand wird gehört.
Öffne meinen Mund, mein Gott
- und jemand wird froh.
(Autor unbekannt)